Im Disneyland der Spiritualität

Veröffentlicht von am Sep 7, 2013 in Reiseberichte & Reportagen | Ein Kommentar
Im Disneyland der Spiritualität

Für Massentourismus nimmt Spanien sogar die Vermarktung seines heiligsten Gutes in Kauf. Im heurigen “Heiligen Compostelischen Jahr” wird auf dem Jakobsweg ein enormer Pilgeransturm erwartet. Ignacio Santos sieht kurz von seinem Arbeitsplatz auf und blickt durchs Fenster. Am Horizont ragen die spitzen Türme der Kathedrale von Santiago de Compostela durch eine grauschwarze Wolkendecke. Es regnet wieder einmal in der galicischen Hauptstadt. Santos verzieht die Augenbrauen. Seine Augen sind müde, doch der hagere Spanier macht sich wieder an die Arbeit. Es gibt noch viel zu tun, denn 2010 ist Xacobeo , ein Heiliges Compostelanisches Jahr. Und Santos ist Generaldirektor des Organisationskomitees für dieses Ereignis.

Kompletter Sündenablass

Ein Xacobeo findet nur dann statt, wenn der Tag des Heiligen Jakob, der 25. Juli, auf einen Sonntag fällt. Für gläubige Katholiken ein besonderer Anlass, da die katholische Kirche in solchen Jakobsjahren einen vollständigen Sündenablass gewährt. Vorausgesetzt, der gute Christ findet den Weg nach Santiago zum Grab des Heiligen Jakob, betet, beichtet und empfängt die Kommunion während der Pilgermesse. Insgesamt werden 2010 über zehn Millionen Besucher in Santiago de Compostela erwartet.

Da der Sündenablass oftmals mit einer Pilgerreise am Jakobsweg verbunden wird, erwartet die Region Galicien und insbesondere den Wallfahrtsort Santiago dieses Jahr einen enormen Ansturm. “Wir rechnen mit mindestens 240.000 Pilgern”, verkündet Santos stolz und fuchtelt dabei wild mit den Armen in der Luft. Er spricht sehr schnell, um keine Zeit zu verlieren. “Die Hälfte davon werden ausländische Pilger sein, vorwiegend aus Deutschland, Italien und Frankreich. Aber schon langsam kommen auch immer mehr Menschen aus Brasilien, Kanada und Südkorea zu uns.”

Nicht ganz so viele Pilger wie im 12. Jahrhundert, in der Blütezeit des Jakobsweges, als rund 400.000 Pilger jährlich unterwegs gewesen sein sollen, um das Grab des Heiligen Jakob aufzusuchen. So wie heute wurde auch damals schon viel Rummel um den Pilgerweg gemacht. Nachdem der Camino über einige Jahrhunderte in Vergessenheit geraten war, ist er seit Beginn der 1990er Jahre wieder in aller Munde. Wandern ist “in” und außerdem gesund, der mystisch-magische Jakobsweg angesagt und reizvoll, ungeachtet von Alter, Herkunft und Motiv.

(c) Martin Zinggl

Wanderstöcke samt Jakobsmuschel. Foto: (c) Martin Zinggl

Für den rasanten Anstieg von mageren 200 (1980) über 5000 (1990) bis zu 55.000 Pilgern (2000) ist nicht nur die mediale Promotion des Xacobeo im In- und Ausland verantwortlich. Als “Vater der Wiederentdeckung” nennt Santos den bereits verstorbenen Pfarrer Elias Valiña, der als Initiator mit dem bedeutenden Kongress in Jaca Ende der 80er Jahre die soziale Bewegung “Erste europäische Kulturstraße” startete. Valiña malte persönlich die gelben Pfeile entlang des Weges auf, um damit, nach eigener Aussage “eine große Invasion vorzubereiten” – wie sich zeigt, mit Erfolg.

Uralte Tradition

Anfang der 90er Jahre vermischte sich der soziale Gedanke mit politischem, kirchlichem und ökonomischem Interesse. Die UNESCO erklärte den Camino Francés zum Weltkulturerbe. Private und staatliche Fördergelder flossen vor allem in die wirtschaftlich vernachlässigte und abgelegene Region Galicien. Die autonome galicische Regierung erkannt die Chance und investierte: Alte Gasthäuser wurden renoviert, neue Herbergen sowie Spitäler und Klöster errichtet, vergessene Wege rekonstruiert, gereinigt, gut beschildert und schließlich erfolgreich touristisch vermarktet. Das Heilige Compostelanische Jahr 1993 wird erstmals als Xacobeo ausgerufen.

Der Besuch von Papst Johannes Paul II. in den achtziger Jahren erinnerte die Katholiken daran, dass es sich beim Jakobsweg auch um eine uralte christliche Tradition handelt. Sowohl der brasilianische Autor Paulo Coelho, als auch (überraschenderweise) der deutsche TV-Komödiant Hape Kerkeling sorgten mit dem Erfolg ihrer “spirituellen” Bestseller für gewaltige Popularität unter Nicht-Katholiken.

“Historisch gesehen gibt es allerdings keinen Beweis, dass der Heilige Jakob jemals in Spanien war”, behauptet José-Miguel Andrade, Historiker und Professor an der Universität Santiago. Genauso wie der österreichische Soziologe Roland Girtler ist der sympathische Spanier der Überzeugung, dass das Jakobsgrab bloß eine Erfindung gewesen sei, um Anerkennung beim Papst zu finden. Während Girtler herausstreicht, dass es sich dabei um einen Akt kirchenpolitischer Machtausübung handelte und darum, eine Symbolfigur für die Reconquista zu schaffen, meint Andrade: “Wir können nicht wissen, wer unter der Kathedrale begraben liegt. Bei Ausgrabungen sollen dort sogar Frauenknochen gefunden worden sein.”

Kopfloser Märtyrer

Legenden zufolge wurde der Leichnam des 44 n. Chr. geköpften Apostels von Jerusalem nach Santiago überführt. Jünger sollen den kopflosen Märtyrer auf ein führerloses Schiff aus Stein verladen haben, das von Engeln geleitet wurde. So kehrten die Überreste des Heiligen Jakob “zurück” nach Galicien. Und somit auch das Christentum auf die iberische Halbinsel, denn der Heilige Santiago war, als er noch lebte, als Prediger des Wortes Gottes nicht erfolgreich gewesen.

Die Kirche anerkannte diese Version und die (höchst zweifelhafte) Echtheit der Gebeine. “Ich will daran glauben, dass er wirklich da war, denn das ist die Basis unserer Arbeit. Aber natürlich ist es eine Frage des Glaubens”, stellt Santos nüchtern fest. “Auch wenn die Wallfahrt möglicherweise eine einzige Farce ist, so haben über Jahrhunderte Millionen von Menschen fest daran geglaubt, dass Santiago hier begraben liegt – und sie sind extra deswegen hierhergekommen”, ergänzt der Historiker Andrade.

Bis zum 7. Jahrhundert findet Jakob nahezu keine Erwähnung, ehe er unter dem asturischen König Alfons II. zum Nationalheiligen und zum Sinnbild der Rückeroberung Spaniens wird. Alfons II. lässt die Kathedrale von Santiago de Compostela über dem angeblichen Grab errichten und ernennt die Stadt nach Jerusalem und Rom zum drittwichtigsten Wallfahrtsort der Christen.

Sechs andere Städte berufen sich heute ebenfalls darauf, Jakobsreliquien zu besitzen. Die armenische Kirche behauptet sogar, im Besitz des gesamten Leichnams inklusive Kopf zu sein. “Zumindest geographisch wären sie näher”, scherzt Andrade. Die katholische Kirche akzeptiert diese sechs Ansprüche natürlich nicht.

(c) Martin Zinggl

Magnettafeln mit Symbolen des Jakobsweg für den heimischen Kühlschrank. Foto: (c) Martin Zinggl

Im Gegensatz zu allen Legenden über den Apostel fanden Reconquista und Inquisition in Spanien tatsächlich statt. Unter der Symbolfigur des Heiligen Jakob als religiösem Motivator wurde ein brutaler Kreuzzug der Christen gegen alle Ungläubigen geführt. Mauren, sephardische Juden und Ketzer, die den strengen Regeln der katholischen Kirche widersprachen, wurden aus Spanien vertrieben, gefoltert oder getötet. Überlebende Ketzer mussten zur Strafe eine Wallfahrt nach Santiago machen. Das Charakterbild des bis dahin friedfertigen Missionars änderte sich schlagartig und grundlegend: er wurde ein Krieger Gottes. Der Heilige Jakob wurde nicht nur für militärische Zwecke der Kreuzritter missbraucht, sondern erhielt sogar den schrecklichen Beinamen Matamoros (Maurentöter).

Die Beziehung zwischen dem Apostel und dem Krieg war seither eine sehr intensive. Santiago war nicht nur Matamoros , sondern auch Mataindios bei der Kolonialisierung Amerikas durch die Spanier, bzw. Matacompostelanos bei der gewaltsamen Unterdrückung jener, die nicht an sein Grab glaubten. Im Spanischen Bürgerkrieg ließ Diktator Franco im Namen Matarojos unzählige republikanische Gegner töten.

Die traumatisch traurige Geschichte des Gotteskriegers findet sich in etlichen christlichen Bildwerken wieder, sogar in der Kathedrale von Santiago selbst. Ein zu Pferde sitzender Jakob galoppiert mit blutigem Schwert und grimmigem Blick einher. Unter den Hufen seines Schimmels verenden Mauren. “Wir haben diese Bilder mit Blumen versehen, so dass es aussieht, als ob Santiago über eine Wiese reitet”, murmelt ein zerknirschter Santos. “Heute nennen wir ihn einfach nur Santiago, Mayor (der Große/der Ältere).” “Damit versucht die Kirche ihre Schuld zu verschleiern”, entgegnet Andrade und fügt hinzu: “Der Erfolg des Jakobsweges liegt im Tod des schlechten Images von Santiago”.

Trekking statt Askese

Trotz seiner Vergangenheit gilt der Jakobsweg heute als beliebtester Weitwanderweg der Welt – auch wenn die Ideologie der meisten Wallfahrer heute keine rein religiöse ist. Die wenigsten Pilger wissen von der blutigen Geschichte des Jakobsweges und seines Namengebers. Bei ihnen stehen vielmehr Urlaub, Abenteuer oder das modische “Trekking” im Vordergrund. Askese und Abgeschiedenheit wurden abgelöst von Package-Bustouren inklusive Viersterne-Hotels, stark überlaufenen Wegen und lästigen Mitpilgern. “Der Grundgedanke des Weges hat sich verändert”, konstatiert Santos. Die Kirche bemüht sich jedenfalls um religiös motivierte Pilger: “Bei uns sind Spiritualität, Kultur, Natur und Gastronomie vorrangig. Unser einziges Ziel ist es, viele Besucher nach Galicien zu bekommen, unabhängig von Herkunft, Kultur, sozialem Stand oder Religion.”

“Anerkannte” Pilger

Die Pilgerurkunde Compostela wird nur an jene vergeben. die zumindest die letzten einhundert Kilometer zu Fuß, zu Pferd oder Esel, bzw. die letzten zweihundert Kilometer mit dem Fahrrad zurückgelegt haben. “Aus – mehr oder weniger – christlichen Motiven”, wie das Informationsblatt des Pilgerbüros in Santiago behauptet.

Im ersten Xacobeo 1993 gab es knapp 100.000 solcher “anerkannter” Pilger. Jenaro Cebrian erwartet lange Warteschlangen vor seinem Büro im kommenden Sommer. Als Leiter des Pilgerbüros ist er besorgt: “Schon vergangenes Jahr kamen an Spitzentagen bis zu 1500 Pilger zu uns, um sich die Compostela zu holen. Wie sollen wir diese Menge heuer bloß logistisch bewältigen?”

(c) Martin Zinggl

Ohne Schmerz kein Ruhm – das gilt nicht nur auf dem Jakobsweg. Foto: (c) Martin Zinggl

Mit der Vermarktung des fragwürdigen Heiligtums hat sich das Unternehmen Jakobsweg heute zu einem eigenen Wirtschaftszweig entwickelt. Entlang der Strecke entstanden unzählige Einrichtungen: Massage- und Relaxsalons, Physiotherapeuten, Bars, Restaurants und Souvenirläden, die allerlei anbieten: vom Jakobsweg-Kaffeehäferl bis zum Jakobsweg-Traumfänger für ruhige Nächte in der Herberge. “Es ist zu einer richtigen Industrie geworden”, sagt Andrade kopfschüttelnd: “ein Disneyland der Spiritualität”.

Für Spaniens Wirtschaft mag der Camino zwar keine Hilfe in der Krise sein, aber für Galicien ist es die einzige Möglichkeit, um Touristen anzulocken. “Viele Orte in Galicien wollen neue Jakobswege ins Leben rufen, um auch ein Stück vom Kuchen abzubekommen”, erklärt Andrade. Bis auf das Modeimperium Inditex (Zara) und ein paar Häfen gibt es in der nordwestlichen Region kaum industrielle Wirtschaft. “Wir haben weder die Attraktionen von Barcelona oder Granada, noch das Wetter der Kanarischen Inseln. Mit dieser Art von Tourismus können wir nicht konkurrieren”, erklärt der Historiker.

Portugiesischer Weg

Paula Vilchez stammt aus Galicien und lebt in Santiago. Aus religiösen oder spirituellen Motiven wandert die Medizinstudentin aber nicht den Weg. “Ich mache das nur zum Spaß und um Leute aus verschiedenen Ländern kennen zu lernen. Manchmal ergeben sich dabei sogar Flirtmöglichkeiten.” Ein Lächeln macht sich auf ihrem blassen Gesicht breit.

Die 26-Jährige marschiert über den Portugiesischen Jakobsweg, denn der Camino Francés ist ihr zu überlaufen. “Da musst du um drei Uhr morgens schon losgehen, um in der nächsten Herberge noch einen Platz zu ergattern.” Doch auch der Portugiesische Weg bereitet ihr wenig Freude, da einige Abschnitte direkt auf der Straße verlaufen, wo Autos vorbeirauschen. “Das ist gefährlich und unattraktiv”, kritisiert Paula.

Pilgermanager Ignacio Santos weiß um die Nachteile des Portugiesischen Weges Bescheid. Dennoch braucht er Ausweichrouten, vor allem im Xacobeo -Jahr. Um den Hauptweg zu entlasten, werden zehn alternative Wanderwege in Galicien stark beworben. Und die Strategie funktioniert: heuer hat sich bereits ein Viertel der Besucher dazu entschieden, andere Jakobswege zu erforschen.

Das muss auch so sein, denn die Herbergen am Originalweg werden die erwarteten Pilgermassen kaum unterbringen können. Neben der Errichtung neuer Gasthäuser wurden temporäre Unterkünfte geschaffen, die zu Stoßzeiten zwischen Juni und September zum Einsatz kommen sollen. Insgesamt können dann 6500 Pilger pro Nacht beherbergt werden. Bei höherem Andrang gibt es natürlich immer noch Quartier bei etlichen privaten Backpackers, Hotels und Pensionen. Auch Campingplätze und Sportanlagen werden in Unterkünfte umfunktioniert. Im schlimmsten Fall stellt die spanische Armee Zelte zur Verfügung.

Vor wenigen Jahren waren die öffentlichen Herbergen in Galicien noch kostenlos. Mit dem Boom, den die Pilger ausgelöst haben, entwickelte sich jedoch das wirtschaftliche Interesse der einzelnen ayuntamientos (Stadtverwaltungen) am Massentourismus, so dass heute fürs Nächtigen bezahlt werden muss. Santos sieht die Kommerzentwicklung aber nicht nur kritisch: “Über hundert kleine Dörfer entlang der Strecke leben von den Pilgern, da sonst keine Touristen dort vorbeikommen. Manche dieser Dörfer waren kurz vor dem Aussterben, ehe der Aufschwung in den neunziger Jahren begonnen hat.”

Paula Vilchez widerspricht: “Heute geht es hier doch nur noch ums Geld. Das ist sehr traurig”, klagt die Medizinstudentin. Der Historiker Andrade sieht bereits das Ende dieses Erfolgsweges nahen: “Der Massentourismus mag zwar viel Geld bringen, aber er verwandelt Santiago in ein Mallorca der Spiritualität.”

Als Paula in der galicischen Hauptstadt ankommt, hängt schon wieder eine riesige schwarze Wolke über der Stadt. Ein Tag in Santiago ohne Regen? “Das ist wie ein spanisches Essen ohne Wein. Hier sagt man, dass der Heilige Jakob persönlich uns so viel Regen schickt. Aus Rache dafür, dass wir behaupten, er wäre hier begraben.”

Dieser Artikel ist am Samstag, dem 03. April 2010 im “extra” der Wiener Zeitung erschienen und wurde am 15. April 2010 erstmals hier veröffentlicht.

1 Kommentar

  1. Bodenseepeter
    15. April 2010

    1993 war nicht das letzte “heilige Jahr”, sondern auch 1999 und 2004 waren auch welche. Siehe http://www.jakobsweg.de/der-beste-zeitpunkt-fur-den-jakobsweg/

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